Markenarchitektur: Neue digitale Marke? Oder Marke digital denken?

Fast jedes Unternehmen steht heute vor den Herausforderungen der digitalen Transformation. Dabei bringen digitale Game-Changer tiefgreifende Veränderungen in Gang: Märkte wandeln sich, Wettbewerbsgrenzen verschwimmen, Ansprüche und Wünsche der Zielgruppe ändern sich und mit ihnen auch die Anforderungen an Marken. Digitalisierung „trifft“ Unternehmen: nicht nur das Marketing und die Zielgruppenansprache erfolgt vor allem digital, sondern interne Prozesse werden digitalisiert und neue Angebote werden entwickelt. Das wirft neue Fragen für die strategische Markenführung und die Markenarchitektur auf: Sollen Unternehmen ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen bzw. neuen Geschäftsmodelle unter der bestehenden Marke platzieren – oder müssen sie ihre Markenarchitektur ganz neu denken?

Das sind verschiedene Markenarchitektur-Optionen

Digitale Marken können als Spezialagenten den Wandel vorantreiben.

Viele Unternehmen setzen auf den Aufbau einer neuen Marke – sei es bei Angebotsmarken (z. B. About You von Otto oder comdirect von Commerzbank) oder Geschäftsbereichen (z. B. Rewe Digital). Eigenständig geführte Marken bieten diverse Vorteile wie die präzise Zielgruppenansprache und eine spitze Profilierung. Die Distanz zur etablierten, nicht-digitalen Dachmarke erhöht die Flexibilität, die besonders wichtig ist, wenn digitale Produkte und Services entwickelt werden. Viele tradierte Unternehmen wünschen sich agile, autonome Innovationseinheiten, die neue Ideen und Ansätze schnell durchsetzen – und sie damit vor dem Erstickungstod in etablierten Prozessen retten. Auch im Fall von antizipierten Markenrisiken (z. B. unsichere Geschäfte, keine Passung zur Unternehmensstrategie) möchte man keine direkte Verbindung zur starken Dachmarke herstellen, um negative Reputationseffekte zu minimieren bzw. das Markenimage nicht zu verwässern. Und: die distanzierte Positionierung der neuen Marke schafft Flexibilität für zukünftige M&A-Aktivitäten. Im digitalen Zeitalter gibt es also viele Gründe für Marken-Neuschöpfungen. Dennoch sollten sich Unternehmen eine Frage stellen: Sind es die hohen Investitionen in den Aufbau einer neuen Marke und die zusätzlichen Kosten der Markenkomplexität wert?

Wer ein „digitaler“ Player sein will, sollte Marken nicht unbedingt separat führen.

Die Schaffung von neuen (digitalen) Marken wird häufig damit begründet, dass die Dachmarke noch keine Kompetenzen in dem jeweiligen Bereich (E-Commerce, Smart Mobility, Industry 4.0, Künstliche Intelligenz, etc.) aufweist. Auch Recruiting-Schwierigkeiten werden genannt – denn die begehrten Fachkräfte arbeiten vermeintlich lieber für trendige Start-ups und coole Marken als für konservative Unternehmenstanker. Wenn sich ein Unternehmen aber perspektivisch als zukunftsorientierte, digitale Organisation positionieren und als solche wahrgenommen werden möchte, empfiehlt es sich, die Dachmarke auch mit ebensolchen Themen und Kompetenzen aufzuladen. Die Stärkung der Dachmarke (und mit ihr der Arbeitgebermarke) kann auch die Identifikation der Mitarbeiter mit der Marke intensivieren sowie einem potentiellen Silo-Denken entgegenwirken. Eine starke Marke kann als sinnstiftendes Change-Instrument auf dem gemeinsamen Weg zum zukunftsorientierten Unternehmen dienen – und auch eine Plattform für Innovationen bilden (z. B. fördert sie Innovationen in Schnittstellen zwischen den Geschäftsbereichen). Bosch oder Merck – beide diversifiziert und komplex organisiert – zeigen, wie sie den digitalen Wandel mit ihrer Ein-Marken-Strategie bestreiten.

Dazu kommt: In Zeiten der Digitalisierung mit exponentiell wachsender Anzahl an Kontaktpunkten ist es wichtiger denn je, das Markenerlebnis durch die Kundenbrille zu betrachten. Fokussiert man auf die eine starke Marke, kann ein konsistentes Markenerlebnis und Orientierung für die Zielgruppen besser gelingen.

Merck hat sich von einem Mischkonzern zu einer starken einheitlichen Marke entwickelt

Wie gelingt es also, die Marke als Treiber und gemeinsame Plattform für die notwendige Transformation zum digitalen Player einsetzen? Erfolg haben Unternehmen, wenn sie:

  • Zukunftsthemen unter der Dachmarke integrieren
  • ihre Positionierung in eine fokussierte, klare und zielgruppenspezifische (Change-)Kommunikation nach innen und außen übersetzen
  • Mitarbeiter mitnehmen und ganzheitlich dazu befähigen, die Marke in ihrem Bereich umzusetzen.

Pauschal kann die Antwort nicht sein, ob ein traditionelles Unternehmen neue Leistungsangebote unter einer neuen oder der bestehenden Marke einführen soll. Beide Varianten müssen nach markenstrategischen Kriterien mit Blick auf Unternehmensziele, Rahmenbedingungen, Marktgegebenheiten und -potenziale bewertet werden. Checklisten und Entscheidungsbäume können die Entscheidungen unterstützen. Unabhängig davon steht fest: Wer morgen noch relevant sein will, darf „Digitalisierung“ und Zukunftsorientierung nicht auf einzelne Angebote oder Einheiten beschränken – sondern muss diese Themen zur Grundlage für alle Bereiche der Markenführung machen.

Über die Autorin:

Dr. Renée Rahman ist Manager und Teamleiterin bei der GMK Markenberatung und berät Kunden zu Markenthemen wie Architektur, Positionierung und interne Implementierung – sie arbeitet beispielsweise für ifm, den Hidden Champion der Automatisierung und Industrie 4.0, sowie für den Pharma- und Technologie-Konzern Merck.